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Abends im Bett hörte ich den Fluss. Sein Rauschen wiegte mich jede Nacht in den Schlaf. Sein Rauschen war das erste, was ich jeden Morgen hörte. Der Fluss war mein ständiger Begleiter. Schon immer. Ich vergass ihn sogar manchmal, so gewöhnt war ich an ihn.
Doch heute liess er mich nicht schlafen. Heute schallte sein Rauschen laut in meinen Ohren. Hatte ich ihn vielleicht verärgert? War er verstimmt? Was hatte ich ihm getan, dass er mir nun die nötige Erholung verwehrte? Wir hatten doch ein Abkommen. Meine Gedanken für sein sanftes Tosen. Von geraubtem Schlaf stand auch nichts im Kleingedruckten.
Ich fühlte mich hintergangen. Es war lächerlich, sich von einem Fluss hintergangen zu fühlen, aber so war es nunmal. Ändern konnte ich daran auch nichts.
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Ich beschloss also, aufzustehen, und kletterte die Treppen möglichst langsam hinab. Auch wir hatten ein Abkommen. Meine Gesellschaft und Zeit für seine knarrenlose Stille. Obwohl ich aber noch so langsam hinabschlich, krächzte und quietschte das alte Holz wie fehlgelaufene Musik… Was war passiert? Hatte ich ihn irgendwie beleidigt? War er genervt, dass er meine Ohren zum Bersten brachte, und mir nun die nötige Beruhigung verwehrte? Wie sollte ich jetzt, nachdem ich ein Glas Wasser trank, wieder schlafen gehen?
Ich hüpfte plötzlich rücksichtslos den Rest der Stufen hinab und lief durch die Gartentür zum Fluss. Ich pfiff penetrant durch die Zähne und wartete bis der Fluss, mit ihren Mondschein-blauen Haaren, aus dem Wasser hervorschaute. “Was geht hier vor sich?”, forderte ich eine Antwort.
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«Wir hatten doch eine Abmachung.»
Beinahe erschrak ich über die wild plätschernde Stimme, die ich schon seit bald zehn Tagen nicht mehr gehört hatte.
«Wieso treibst du mich in den Wahnsinn?», schrie ich, ein wenig lauter als ich ängstlich war, aufs Wasser hinaus. «Ich hab’ dir noch nichts getan. Ich war doch für dich da.»
«Das war aber nicht unsere Vereinbarung, erinnerst du dich? Du hast sie wieder genommen, stimmt’s?»
«Ich habe heute keine Pillen geschluckt.»
«Natürlich nicht, sonst könntest du mich ja nicht hören. Aber die ganze letzte Woche hast du sie genommen. Keine chemischen Drogen! Du hast es uns versprochen.»
«Aber Doktor Steiner hat gesagt…»
«Wieso interessiert es dich, was eine Therapeutin sagt? Hat sie dir etwa Freundschaft angeboten?»
«Nein», hauchte ich, «das tust nur du.»
«Siehst du? Wir sind für dich da. Aber wenn wir dir helfen sollen, darfst du uns nicht mehr ignorieren. Versuche uns nicht zu verleugnen. Diese Pillen vergiften deine Seele.»
«Meine Seele? Ohne diese Pillen unterhalte ich mich mit Gegenständen. Und das ist noch das harmloseste. Das ist doch nicht normal.»
«Was ist denn schon normal? Normal bedeutet, dass du einsam und unglücklich bist. Du redest dir ein verrückt zu sein, dabei ist es doch eine Gabe, uns zu hören. Aber die Sache ist ganz einfach. Du entscheidest dich entweder für uns oder gegen uns. Mit uns bleibst du der komische Aussenseiter und ohne uns werden dich die Welt und auch wir in den Wahnsinn treiben, das hast du ja schon gemerkt. So oder so ist normal keine Option.»
Ich halte noch immer das schweissklebrige Glas Wasser in der Hand, als ich die Treppe hoch schlurfe und mich ins Bett verkrieche. Draussen summt der Fluss nun wieder und wiegt mich langsam in den Schlaf. Er übertönt das Gluckern der Klospülung, welche die restlichen Psychopharmaka verschluckt. Kurz bevor ich das Bewusstsein verliere, öffne ich noch einmal die Augen und schwöre mir, meinen Freunden treu zu bleiben.