Gruppentext I: Oben

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Anna sass auf einem dicken Ast, liess ihre Beine baumeln, liess ihre Füsse, die in grossen roten Gummistiefeln steckten, baumeln und ass Kirschen. Ihr Mund war schon ganz verschmiert, kirschrote Lippen, kirschrotes Kinn, kirschrotes Kind im Kirschbaum drin. Anna griff nach den Kirschen, saugte sie einzeln von den Stielen ab, liess sie lustvoll im Mund zerplatzen, spitze dann die Lippen und stiess die Steine aus, liess sie in einem hohen Bogen ins Gras fliegen. Wie lange sie da schon sass, das wusste Anna nicht, es war ein heisser Sommertag, Sommerferien, die sich in eine unendliche Länge zu ziehen schienen – ihr war langweilig. Unten strich Mieze um den Baum rum, rieb sich an der rauen Kirschbaumrinde, stellte den Schwanz in die Höhe und markierte. Irre Handlung, war ja klar, dass dies ihr Revier war, aber in dieser Hitze schienen alle langsam aber sicher zu verblöden. Auch Annas Beine, die irgendwann in gefährliche Wippbewegung kamen. Wirklich ganz verblödete Beine das, denn der Ast unter Anna begann nun plötzlich recht gefährlich zu knarren. Anna erschrak, doch als nichts geschah, wippte sie ruhig weiter, nun begleitet von einem rhythmischen Knarren, das ihr gefiel, durchbrach es doch immerhin diese angespannte hochsommerliche Stille, die nur manchmal von einer Fliege durchkreuzt wurde, und irgendwann hörte Anna auch ein paar Mal einen Specht in der Ferne klopfen, doch dann war auch er wieder weg, deshalb war Anna nun ganz froh um das Knarren des Astes unter ihr. Und also wippte sie weiter, immer stärker mit ihren roten Gummistiefeln, sass da auf dem Ast, hoch oben im Baum.

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Und mit jedem Wippen stieg meine Spannung mehr. Ich krallte meine Finger in den Sims unter meinem Fenster, spähte durch den Spalt meiner Jalousie hinaus auf meinen Garten, meinen Kirschbaum und das Kind im Kirschbaum drin. Gespannt zählte ich im Kopf die Bewegungen der kleinen Beinchen mit, unter denen der Ast immer mehr erzitterte. Schon seit Wochen konnte ich meinen Mittags Tee nicht mehr genießen, denn jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster sah, auf meinen wunderschönen, friedlichen Garten, dann sass da diese Göre mittendrin in meinem Kirschbaum. Sie knickte Äste um, machte die Blätter kaputt und ass die schönsten aller Kirschen weg. Die Steine schmiss sie dann ins grüne Grass, als ob sie absichtlich meinen neuen Rasenmäher sabotieren wollte. Ich kenne sie. Sie ist das Kind von den Maiers ein paar Häuser weiter. Anna. Ich hätte sie natürlich verscheuchen können. Oder sie bei ihren Eltern anschwärzen. Aber so bin ich nicht. Ich bin die Art Mensch, die sich nicht beschwert, sondern alles mit Frustration hinnehmen und auf den Moment warten, wenn das Karma sich für einen rächt. Also wartete ich, beobachtete jeden Tag die kleine Kirschendiebin mit ihren provozierenden Roten Gummistiefeln auf meinen Baum klettern und wie der Ast unter ihrem Gewicht jedes Mal ein bisschen mehr nachgab. Heute war es soweit, da war ich sicher. Heute würde der Ast brechen und Anna würde fallen. Also holte ich mir einen Stuhl, spähte weiter durch die Jalousie und wartete. Doch sie fiel nicht. Sie ass, sie wippte, aber sie fiel nicht. Ich wartete eine Ewigkeit. Doch dann stieg sie vom Baum ohne einen Kratzer und verschwand. Jetzt reichte es! Frustriert sprang ich auf und schlug mit der Faust gegen die Wand. Wie konnte diese gemeine Diebin nur so ein Glück haben? Genug war genug. Es war Zeit sich in den Keller zu begeben und die alte Säge hervor zu suchen. Wenn das Karma versagt, dann muss man eben selbst nachhelfen!  

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