Kanalisation

Kurzgeschichte Stories

Was für eine dumme Idee! Eine richtige Scheissidee!
Die Dunkelheit umschlingt mich wie eine Zwangsjacke, als ich vorsichtig einen Fuss vor den anderen setze.
„Sei kein Weichei“, haben sie gesagt! „Das hat jeder von uns schon mal gemacht!“
Nur die Neonröhre, die weit hinter mir an der feuchten, triefenden Decke hängt, spendet noch ein wenig Licht– gerade mal genug, dass ich weiss, wo oben und wo unten ist. Das Handy haben sie mir abgenommen und wer hat schon im 21. Jahrhundert noch eine Taschenlampe dabei?
Von wegen! Keiner von euch ist jemals hier unten gewesen! Ihr macht doch schon in die Hose, wenn die Lehrerin das Licht im Klassenzimmer ausschaltet!
Das Plätschern, das meine nackten Füsse auf dem nasskalten Boden verursachen, hallt von den steinernen Wänden wider, sodass es so klingt, als sei nicht nur ich hier unten. Zumindest erkläre ich mir das so.
Ach ja, die Schuhe haben sie mir selbstverständlich auch abgenommen. Denn „sonst ist es nicht dasselbe einzigartige Erlebnis“ und „sonst ist es ja nicht lustig“.
Ja, wirklich lustig. Hört ihr mein Gelächter dort oben oder seid ihr zu beschäftigt, über mich zu lachen, den armen Jungen, der sich auf eure dumme Mutprobe eingelassen hat?
In dem Moment höre ich wirklich jemand von weither lachen.
Ich bleibe blitzartig stehen. Habe ich den Ausgang endlich gefunden? Gibt es überhaupt einen Ausgang aus dieser kalten, nassen, stinkenden Hölle oder war auch das nur eine Lüge?
„Du wirst dafür belohnt, ehrlich!“, haben sie gesagt. „Es gibt einen Kanal, der direkt ins Meer mündet, aber den musst du erst mal finden! Wir warten dort auf dich.“
Das Lachen musste ich mir eingebildet haben, denn in der Zeit, in der ich nun schon dort stehe, habe ich keinen Mucks mehr gehört. Nun ja, zumindest keinen menschlichen Mucks, denn die feuchte Luft und die unzähligen, kaum berührten Kanäle, die wie ein Labyrinth durch den Untergrund führen, locken alles an, was krabbelt und kriecht. Schon nach fünf Minuten habe ich aus Versehen eine Kakerlake zertreten, nach zehn bin ich einer Ratte begegnet, nach der ersten Stunde war ich bestimmt schon verantwortlich für ein regelrechtes Insekten-Massaker.
Und das alles, als noch in regelmässigen Abständen Neonröhren den Weg beleuchten. Ich will gar nicht wissen, was – oder vielleicht sogar wer – sich hier, wo sich bestimmt schon seit Ewigkeiten kein Lichtstrahl mehr hin getraut hat, tummelte.
Ein Schauder läuft mir über den Rücken und ich versuche, die Gedanken an Leichen, Krokodile und Wasserungeheuer abzuschütteln. Ich darf nicht verängstigt sein, das wäre genau das, was sie von mir wollen. Und diese Genugtuung will ich ihnen auf keinen Fall gönnen.
Ich gehe weiter den Kanal entlang, der mir unendlich lang erscheint.
Da! Da bewegt sich was! Falls man in dieser Dunkelheit überhaupt noch von Sehen sprechen konnte, dann habe ich es gesehen: Auf der anderen Seite des Stroms, der zu meiner Rechten aus und ins Dunkle fliesst, hat sich etwas ruckartig bewegt.
Ich sollte es einfach ignorieren, doch ich kann nicht. Egal, wie mutig man ist oder wie mutig man zu sein glaubt – wenn man für gut eineinhalb Stunden im Dunkeln umher wattet und keine Menschenseele zu Gesicht bekommt, dann ist selbst die kleinste Bewegung interessant und vielleicht sogar überlebenswichtig.
So hat die Bewegung in mir zweierlei Gefühle ausgelöst: Die Hoffnung, es würde sich um die Rettung handeln, die ich ersehne, und gleichzeitig aber auch das Verlangen, die Beine in die Hand zu nehmen und sich möglichst schnell aus dem Staub zu machen.
Zwei widersprüchliche Gefühle, zugegeben, aber in diesem Moment empfinde ich sie beide. Egal ob es sich um Rettung oder Verderben gehandelt hat, ich bleibe stehen. Es ist fast so, als würde die Hoffnung mit der Angst um die Kontrolle über meinen Körper kämpfen: Ich bin wie festgefroren.
Als ich aber von hinten ein Knurren vernehme, gewinnt die Angst eindeutig überhand, ich renne los.
Ich renne, immer schneller und schneller, es ist mir plötzlich egal, ob ich auf eine Kakerlake trete. Es ist mir egal, ob ich gleich an eine Abzweigung gerate und sie verpasse, sodass ich geradewegs in den Strom falle. Es ist mir egal, was die anderen von mir denken, wenn ich gleich mit tränenerfüllten Augen den Ausgang erreiche.
Es ist mir egal, ob ich nie hier raus komme oder ob ich jeden Moment den Ausgang erreiche.
Alles ist mir egal, nur ein einziger Gedanke schwirrte durch meinen Kopf:
Was für eine dumme Idee! Eine richtige Scheissidee!

Michel Probst

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